Walter Siegfried: DER FUSSGÄNGER
   oder
'Über das Spannungsfeld zwischen Tanzen und Getanztwerden'


... Man kann, in Handlungsabläufe eingebettet, nicht zugleich tanzen. Aber man kann sehr wohl aus Handlungsabläufen aussteigen, etwa wenn man vom Ampelrot zu einem Innehalten aufgefordert wird. Man kann - als Fußgänger - sich selbst sowie die Menschen neben sich spüren und kann jene auf der gegenüberliegenden Straßenseite anschauen. ...
 

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Und wenn dir jemand gegenüber steht und singt,
wohin schaust du dann:
auf die Augen oder auf den Mund?

- - - - - - - - : Gisela Müller :

Ich stehe in Istanbul am Flughafen, schaue durch die großen Glasscheiben der Transithalle auf das Rollfeld und warte auf den Aufruf meines Anschlussflugs. Leise summe ich vor mich hin. Die Lieder der letzten Chorprobe mit den Senioren klingen mir noch in den Ohren. Locus iste, a Deo factus est. Der Himmel draußen hat die Farbe des flirrenden Betons des Rollfeldes. Ich summe leise vor mich hin. Aus irgendeinem Zeitloch heraus verlautbart sich auf einmal die Stimme meiner Mutter: "Was sämerst du so?! Sämer doch net so rum!"
Mein leises Summen, hatte ich stets angenommen, war der Mutter unangenehm, und leise summen etwas, das man nicht tut. Wie in der Nase bohren. Etwas, das unschön ist, unschön aussieht, unschön klingt.
Sämern war das Wort für ungehöriges leises Summen.
Sämern.

Es gibt solche Worte, die wir anhänglich mit uns herum tragen, und wir werden sie, was immer wir auch tun, nur selten los. Worte, von denen wir meinen, wir wüssten genau, was sie bedeuten. Muttersprachliche Zauberworte, deren Sinn wir mehr erfühlt haben, und die sich deshalb am tiefsten Grund unserer Wortschätze abgelagert haben wie feiner Kies.
Wie ein feiner Kiesel, der durch die Socke in den Fuß drückt und das Fortkommen schmerzhaft behindert.

Ich schaue durch die Glasscheiben in den diesigen türkischen Himmel und denke über das Wort sämern nach. Was soll das überhaupt heißen? Sämern, wo kommt das her? Doch nicht von Singen oder Summen. Eher von Säumen, versäumen, die Zeit vertrödeln. Was sämerst du - was säumst du, trödel nicht so herum.

Aha, denke ich, dein leises Summen hat dich langsam gemacht. Wer singt durchmisst seine Zeit in Liedgeschwindigkeit. Der Gesang wird zum Säumnis. Zur Einsäumung; zum Saum. Damit das Leben in seiner Beschleunigung nicht ausfranst und aus der Form gerät.
Der Saum am Kleid gleicht dem Rahmen eines Bildes. Den weißen Papierrändern in Büchern. Der Einzäunung des Gartens. Dem Fenster, durch das der Blick hinaus ins Freie geht.

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Und wenn dir jemand entgegen kommt und tanzt,
wohin schaust du dann:
auf die Hände oder auf die Füße?

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site-specific

(ders. wie oben)


... Das Verlassen der rahmeninternen (selbstreferentiellen) Welt ist ein langer Prozess (...). Dabei ist spannend zu beobachten, wie erst die werkinterne Kohärenz (etwa der Zentralperspektive) gelockert werden muss, um schließlich das Werk aus seinem Rahmen treten zu lassen. ...


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