gestern

... Drei Frauen - und zwei Männer, 16. Juli

Die Frau blickt zum Himmel, den rechten Handrücken auf der Stirn, als wollte sie sich den Schweiß abwischen. Barfüßig, den rechten Fuß nach vorne gesetzt, gekleidet in eine auf der Brust geschnürte Weste und einen Rock, unter welchem durch die Bewegung des Beines ein zweiter zu sehen ist. In der linken Hand hält sie einen langen Stab, an dem sie sich aufrichtet. Sie steht vor der medizinischen Lesehalle der Universitätsbibliothek.

Die andere Frau ist in eine Decke gehüllt und blickt nach unten. Ihre übereinandergeschlagenen Hände ragen aus der Umhüllung. Sie ist schwarz und sieht aus wie ein Model, schlank, mit vollen Lippen. Unter der Fotografie steht "HUNGER", darunter die Orte: Calcutta, Addis Abeba, Harare, Khartoum.

Das ist das umgekehrte Benettonprinzip: Nicht das Menschliche (Elend) wirbt für die Mode, sondern mittels der Modefotografie wird auf das Menschliche aufmerksam gemacht. Irritation. Die Oberfläche ist glatt, der Text ergibt den Widerspruch. Vorbeifahrend erregt es keine Aufmerksamkeit, nur wenn man direkt davor steht - an der Bushaltestelle, Beethovenplatz 1. <BR>Ausgezogen, die Nr. 58 zu suchen, angekommen bei der 54, wo so merkwürdige Berufsbezeichungen wie "Durchgangsärzte" kursieren, dann Beethoven. Bizarr hat er gewirkt auf seine Zeitgenossen, und auch Goethe hat er in Erstaunen gesetzt.
"Zusammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehn muß."
An Christiane v. Goethe, 19.7.1812

Die Frau auf dem Fahrrad fährt weiter bis zur nächsten Hausnummer, der 64, dann kehrt sie um.


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chlampe an alle