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... HEIMATMUSEUM, Exponat Nr. 29 (26. Juni, 2001)

Nr.29 Bahnhof ist mehr als ein nicht verstandenes Wort. Ein Atemzustand, ein Pfiff, Zeichen zum Aufbruch; von menschlichen Lippen an- und ausgestoßen nach wie vor, obwohl Türen sich selbsttätig schließen. HIER TUT SICH WAS, steht in großen Lettern auf Plastikfolien. Dahinter, man ahnt es nur, Baugerüste. Aufbau, Abbau, Umbau.

Ankommen, fortfahren, warten. Bahnhof, Ort des Uneigentlichen. Das Eigentliche passiert erst, NACHDEM man angekommen ist. WENN man fortfährt. Während man wartet passiert nichts. Weil sich niemand die Zeit dazu nimmt; zu warten. Weil immer schon klar ist, worauf oder auf wen das Warten gerichtet ist. Und wie lange es dauern wird. Allenfalls hat der Eurocity Verspätung, aber das ist dann schon Grund zu Nervosität. 5 min. Verspätung, 20 min. Verspätung, manchmal ein ganzes Leben.

Der Gepäckträger Service empfängt gelangweilt die älteren Damen und Herren aus der ersten Klasse. Eine überholte Geste der Deutschen Bahn. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt. Gepäckstücke rollen selbsttätig. Die suchenden Blicke der Aussteigenden, heimliches Hoffen, dass da jemand stünde. Einer mit Blumen, mit offenen Armen, überraschend wie in der Werbung. Bahnhofsmythen. Wie die Schicksale, die sich hier kreuzen sollen. Versprechungen, auf der Strecke von damals bis heute geblieben.

20:30 Uhr nach Napoli/Neapel, Gleis 12 und nur 2. Klasse. Gleis 18 um 20:54 über Augsburg, Stuttgart, Karlsruhe, Strassburg nach Paris Est. Der letzte Zug fährt 23:53 ab Gleis 22 nach Ingolstadt über Dachau und Pfaffenhofen. Der erste Zug um null Uhr null nach Weilheim, aber nicht am 25. Dezember. Im Schlafwagen nach Kopenhagen. Zum Frühstück nach Florenz. Bahnhof München. Die miesesten belegten Brötchen der Stadt, LKS (sprich: Leberkässemmel) kurz vor Mitternacht, Bücher auch am Sonntag.


Undurchdrungen von letzten Kusshänden reflektiert das ICE-Fenster die Trauer in den Augen derer davor, derer auf dem Bahnsteig. Abschied nehmen, immer von sich selbst.
Dies ist das letzte Exponat. Über Heimat bliebe noch viel zu sagen. Über den Mut, in einen Zug zu springen, ohne zu wissen, wohin er fährt.

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chlampe an alle