gestern

... Dematerialisierung, 12. November

Inzwischen ist es spät geworden, die Strasse wird mein Nachtprogramm. Mumifizierte Gestalten in Begleitung ihrer Schatten hasten vorbei, kontextlos stöckelnde Damenschuhe, Menschenhälse von Mantelkrägen verschluckt, weiss verpuffen Atemwolken, künstliches Licht, zerfliessende Konturen. Wie jeden Abend steht jemand im Eingang von Sauselitos, friert und telefoniert.
Nachts also, wenn die Temperatur sinkt und Katzen grau werden, wenn Geschäftsleute und Gewissheiten von der Bildfläche verschwinden, verschwinden auch die Häuser; nachts in der Türkenstrasse.

Das Verschwinden: derzeit viel beklagtes Phänomen. Verschwinden von Werten, Amokläufer, Verschwinden von Sicherheit, 4 Mio. arbeitslos, Verschwinden von Standards, von Normalitäten, ungebrochenen Lebensläufen, Schule - Studium - Karriere - Heirat - Kinder - Haus. Das Verschwinden der Frau vor dem Herd, das Verschwinden der Männer fürs Leben, das Verschwinden gemischtgeschlechtlicher Paarbildung als Default-Muster. Das Verschwinden Guter Alter Zeit, das Verschwinden von Raider, dem Pausensnack. Das Verschwinden von Helden und Dateien, etc. und verschwindende Häuser. Wo ist die Nummer 62??

Zwischen sechzig und sechsundsechzig, zwischen Kunst und Esotherik, Antiquitäten und Mottenbox, zwischen alten Apothekergefäßen und Kosmetik zum Selbermachen, gusseisernen Daumenschrauben und Bachblüten, zwischen da und dort fehlt etwas. Etwas spurlos verschwunden. Kein Loch, keine Lücke, kein Spalt, kein Abgrund, kein Defizit und doch ...

Aber vielleicht muß man nur genau hinsehen, eine Nacht drüber schlafen, es bei Tag betrachten. Mag sein, die Dinge sind nicht verschwunden, nur verwandelt. Metamorphosen des Alltags, Twix. Und, weil heute Freitag, wie passend, Rätsel des Alltags:

"Liebes Magazin der Süddeutschen Zeitung
Wie kommt es zu nicht-existenten Häusern in einer innerstädtichen Strasse?"

Sachdienliche Hinweise bitte an info@schlampe.de

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chlampe an alle