Das ganze Web eine Bühne
Netzinszenierungen und Internet-Performances

von Gisela Müller

"Die Netzkunst ist tot, es lebe das Internet", möchte ich fast beginnen. Nach dem Hype der letzten Jahre scheint nun Ernüchterung sich breitzumachen in der Medien-Kunst-Szene. "Warum es keine Netzkunst im Internet geben kann", titelte letztens Olaf Arndt in der Berliner Gazette und beschrieb die Gründe, denen man im Prinzip nicht widersprechen kann. Zum Beispiel, dass das Netz "auf elende Art keimfrei" sei und ihm das Physische fehle.
Zu all dieser Kunst, die es im Internet nicht geben kann gesellt sich nun auch das Theater. Theater als das Genre, das wie kaum ein anderes von der Präsenz leibhaftiger Körper, vom physischen Zusammensein von Schauspielern und Zuschauern in einem Raum bestimmt ist. Theater als die Kunst der Unmittelbarkeit und Einmaligkeit ­ jede Vorstellung ist anders ­ wie soll das zusammengehen mit dem Medium Internet, wo alles indirekt, remote und beliebig reproduzierbar ist? Kann es überhaupt zusammengehen? Was hat das Netz dem Theater zu bieten? Oder umgekehrt: was hat das Theater dem Netz zu bieten? Und ist es nicht etwas anachronistisch, diese Fragen zu einem Zeitpunkt zu stellen, wo eigentlich alles schon wieder vorbei ist?

Ich denke nein. Das Theater selbst ist anachronistisch, aber dadurch auch bis heute aktuell geblieben. Weil die Themen, die es behandelt immer mit dem Menschen zu tun haben und uns von daher immer angehen. Gleichzeitig hat Theater auch mit Technik zu tun. Mit seiner Inszenierung im Raum. Theatermacher haben und hatten auch stets einen Hang zur Technik und zu neuen Technologien. Wie Goethe in seinem Faust den Direktor im "Vorspiel auf dem Theater" sagen lässt:
"Ihr wißt, auf unseren deutschen Bühnen
Probiert ein jeder was er mag;
Drum schonet mir an diesem Tag
Prospekte nicht und nicht Maschinen ..."
Oder - kleiner Schnelldurchlauf durch die Theatergeschichte - ich erinnere an die hochkomplexe Bühnenmaschinerie des Barrocktheaters oder an Erwin Piscator, der schon ganz früh mit Filmeinblendungen, Projektionen und Laufbändern auf der Bühne arbeitete.

Ein anderer Theatermensch schrieb 1932 eine "Rede über die Funktion des Rundfunks". Bertolt Brecht. Was er in dieser Rede formulierte, hört sich sehr nach Internet an. Vielleicht muss man ja Brecht als einen der Pioniere des Internet bezeichnen. Er hatte sich nämlich schon damals ein Medium vorgestellt, das kein reines Distributions- sondern ein Kommunikationsmedium wäre. Vor dem Hintergrund des immer stärker Verbreitung findenden Rundfunks heisst es bei Brecht: "Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen."
Brecht forderte also genau das, was das Internet heute ermöglicht, und er knüpfte daran die utopische Hoffnung, dadurch die Wirklichkeit, bzw. die Gesellschaft verändern zu können.

Tatsächlich eine Utopie? 1998 organisierte der ehemaliger Schauspieler Ricardo Dominguez [1] mit dem von ihm gegründeten "Electronic Disturbance Theater" eines der ersten virtuellen Sit-Ins aus Solidarität mit den Zapatisten in Chiapas. Durch das starke öffentliche Interesse an den Aktionen konnten die Forderungen der Zapatisten international bekannt gemacht werden, und inzwischen gilt die zapatistische Bewegung als eines der erfolgreichsten Beispiele politischen Untegrundaktivismus im Internet.

Am letzten Beispiel wird klar, dass man nicht pauschal über "das Theater" reden kann. Theaterleute selbst haben unterschiedliche Auffassungen von der eigenen Kunst. Für die einen steht das politisch/soziale Moment im Vordergrund, für die anderen die Ästhetik. Verwiesen sei hier beispielsweise auf die schicke Site des Hamburger Schauspielhauses, das vor einiger Zeit seine "Fünfte Spielstätte" im Web eröffnet hat [2].

Bevor ich nun von einem Wettbewerb berichte, der Anfang dieses Jahres vom Theaterfestival SPIELART [3] in Zusammenarbeit mit der Ars Electronica [4], dem Medienforum München [5] und dem Stadtforum München [6] ausgeschrieben wurde, einem Wettbewerb, der zur Auseinandersetzung mit den oben formulierten Fragen aufrief und sich ausdrücklich an Theaterleute richtete, möchte ich ganz allgemein und vielleicht etwas abstrakt die Analogien der beiden (Kunst)-Medien Theater und Internet benennen.

Zunächst ist die Rede von Räumen: Bühnenraum, Datenraum. In jedem Fall öffentliche oder halböffentliche Räume, deren Zugang vom Prinzip her jedem offen steht. "Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwenig ist." schreibt Peter Brook in seinem Buch "Der leere Raum". Auch eine Website braucht nicht mehr, einen blinkenden Buchstaben, einen Link. Im Theater gibt es den Begriff Guckkastenbühne. Und was ist der Monitor anderes als ein Guckkasten. Vor dem Kasten sitzen die User, vor der Bühne das Publikum. Beides eine Art von Kollektiv, und ohne dieses Kollektiv wird das, was auf der Bühne, auf dem Screen passiert im Grunde überflüssig.

Eine Theatervorstellung folgt einer Dramaturgie, einem gewissen Spannungsaufbau und ­bogen, damit die Zuschauer bei der Stange und in ihren Sesseln sitzen bleiben. Analog dazu machen sich Interfacedesigner Gedanken über die Benutzerführung einer Website und wie sie die Aufmerksamkeit und Verweildauer des Users auf einer Seite erhöhen können.
Auf der Produktionsebene wiederum entsteht die Website durch Zusammenarbeit verschiedener Leute mit unterschiedlichen Fertigkeiten, Grafiker, Texter, Programmierer, EDV- und Telekommunikations-Techniker. Genauso sind für das Zustandekommen einer Theateraufführung Schauspieler, Stückeschreiber, Regisseure, Bühnentechniker, Handwerker, Kostümbildner etc. zuständig.

Das bleibt jedoch alles nur an der Oberfläche. Begreift man Theater als 3D-Medium, mutet der sterile Computer vergleichsweise kühl und tiefenlos an. Da kommen plötzlich atmende, schwitzende, schreiende, schweigende Schauspielerkörper ins Spiel, in Echtzeit und wirklich live, und nicht nur als ein gefiltertes Versprechen davon. Live-Streaming ist zwar allmählich ein Thema über das man ernsthaft nachdenken kann, aber als User muss ich erst daran glauben, dass das Gestreamte tatsächlich live übertragen wird und nicht ein vorproduziertes oder erst Stunden später abgespieltes Filmchen ist. Aber wir scheinen ja ziemlich leichtgläubig, und wenn uns ein anderer Chatter vertrauenswürdig versichert, er sitze nackt an seiner Tastatur, dann nehmen wir ihm das in der Regel auch ab.

Ich glaube, das ist genau der Punkt, wo sich Theater und Internet eigentlich treffen. Nicht bei den vorher aufgeführten Ähnlichkeiten und Analogien, den Gemeinsamkeiten auf der Herstellungs- und Rezeptionsebene. Sondern auf einer Metaebene, nämlich da, wo die Fiktion den Raum betritt.

Kleiner Exkurs ins Kindertheater. Das Stück hieß Algot Storm. Ich betreute diese mobile Produktion über einen längeren Zeitraum hinweg und hatte, während wir durch die fränkische Provinz tingelten Gelegenheit, das junge Publikum eingehend zu beobachten.
Im Stück gab es vier Personen: die Hauptfigur Algot Storm, einen Kellner, einen Schneider und Karlknut, den Wurm. Alle vier wurden von ein und demselben Schauspieler gespielt. Das Bühnenbild bestand aus einem Tisch, einem Kleiderständer, einem quadratischen Bodentuch, die eine Hälfte blau angemalt, die andere grün, dazwischen quer durch die Diagonale ein roter Strich ­ mehr nicht. Doch trotz dieser spärlichen Ausstattung existierten für die Kinder beim Zusehen alle Orte der Handlung: die stark befahrene Straße, die Konditorei mit dem schnippischen Kellner, die winzige Schneiderwerkstatt, das spartanische Zuhause Algot Storms. Es genügte eine Geste oder ein akkustisches Signal, z.B. Pfeifen wie Vogelzwitschern, um eine komplette Parklandschaft in der Vorstellung der Kinder entstehen zu lassen.
Eine unausgesprochene Verabredung wurde getroffen, dass es für die Dauer einer dreiviertel Stunde einen Park gibt und all die anderen Orte, dass es vier Personen gibt, obwohl doch nur ein Schauspieler anwesend war. Dass der Zeigefinger des Schauspielers ein Wurm ist. So einfach.

Genauso funktioniert die virtuelle Welt des Cyberspace. Oder kann sie funktionieren. Chats sind dafür ein gutes Beispiel oder die Webcams bei Tina und Consorten. Wir lassen uns auf diese Spiele ein, glauben was wir lesen, sehen obwohl wir genau wissen oder wissen könnten, was technisch möglich, will sagen manipulierbar ist.

Der virtuelle Raum ist also ein fiktiver Raum, eine kollektive Verabredung, ein Appell an die Imagination, an die Phantasie und das Vertrauen. Stichwort: Netiquette. Netzleute sind in diesem Sinne wie Theaterleute Träumer. Der Traum ist der, den Brecht schon hatte, den Netzaktivisten wie Ricardo Dominguez weiterspinnen oder der im berühmt berüchtigten Toywar ein wenig wirklich wurde. Das hat mit Subversion zu tun, mit einem "Wir"-Gefühl und damit, die Welt durch das, was man tut verändern zu können. Das ist der Kampf der Kleinen gegen die Mächtigen, der Guten gegen die Bösen und die Sehnsucht nach der Eindeutigkeit dieser Rebellion. Mit dem Internet ist nun seit einiger Zeit ein Medium verfügbar, das all dies wieder möglich scheinen lässt. Das macht das Internet auch und gerade für Theatermenschen so attraktiv.

Aber wie gehen sie nun konkret damit um, wie nutzen sie das "neue" Medium und haben sie dem Repertoire der Netzkunst und Internet-Aktivitäten tatsächlich etwas substantielles hinzuzufügen?

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