Das ganze Web eine Bühne
(Fortsetzung; Seite 3)

Sechste und letzte Kategorie: "FakedFiction".
Darunter fallen insbesondere die beiden Projekte, die von der Jury als Gewinner prämiert wurden. Das eine Projekt ist das Internet-Roadmovie "FLUCHTEN!" von Kerstin Evert, Regina Wenig und Michael Wolters, und der andere Projektvorschlag kommt von der deutsch-englischen Gruppe Gob Squad [7]: "Missing".

Ich zitiere zwei Abschnitte aus der Pressemeldung zur Preisverleihung und denke, dabei wird schnell klar, was ich mit "FakedFiction" meine.
Internet Roadmovie
FLUCHTEN!


'Birth of the Cool' kann ihren Existenzgründerkredit nicht zurückzahlen. In letzter Konsequenz überfällt sie eine Filiale der Münchner Sparkasse. Im Folgenden ist sie mit drei Millionen auf der Flucht.

Kann man in Bayern flüchten?

"FLUCHTEN!" ist ein Internet- Roadmovie, das im Realraum der Stadt München erzählt wird und zeitgleich im virtuellen Raum des Internets zu sehen ist. Auch wenn "FLUCHTEN!" für ein Online-Publikum konzipiert ist, sorgt es sicherlich auch im Stadtraum unter zufälligen Passanten für Aufsehen.

Der scheinbaren Freiheit des Straßennetzes und der scheinbaren Freiheit des Netzes weltweiter Links, Kontakte und Informationen setzt das Trio Evert/Wenig/Wolters "FLUCHTEN!" entgegen, dessen Bilder aus der Perspektive von Überwachungskameras erzählt und dessen Soundtrack mittels Verwanzung von 'Birth of the Cool' und ihrer Mitstreiter hörbar gemacht wird.

Ihre Flucht ist letztendlich eine Flucht von einer Überwachungskamera zur nächsten, ob sie nun in Banken, Kaufhäusern, an öffentlichen Plätzen, Bahnsteigen, bei McDrive, in privaten Räumen oder, getarnt als Wetterkamera, auf der Zugspitze aufgestellt sind.

(...)
Über den Zusammenhang von "FLUCHTEN!" und dem Theater sagen die Künstler: 'FLUCHTEN!' arbeitet an der Entwicklung einer eigenen Ästhetik, die sich mit der Zusammenschau von Theater, Internet und dem Genre Roadmovie auseinandersetzt. Dabei betrachten wir Theater als das 'Muttermedium' schlechthin, denn es kann sich jederzeit andere Medien einverleiben."

---------------------------------------------
Gob Squad: "Missing" (Arbeitstitel)

Ein kleines Privatflugzeug stürzt auf dem Flug nach Las Vegas über der Wüste von Nevada ab. Die Passagiere gelten als tot. Eine Band, von der niemand jemals gehört hat, wird vermisst. Der Fanclub beginnt seine Suche in Chatrooms und Fan-Sites. Das Wrack eines Flugzeugs wird gefunden. Die Black Box läßt auf Sabotage schließen. Das Wrack ist explodiert; es kann Wochen dauern, bis die Körper entdeckt werden.
Der Fanclub der Band wird überflutet von Botschaften verzweifelter Anhänger, die überzeugt sind, dass das Flugzeug sicher gelandet ist. Die Chatrooms sind voll mit Anekdoten und Kommentaren. Die Nachricht wird veröffentlicht, dass die Crew und die Passagiere noch immer nicht gefunden sind. Die Suche hält an. Im Fanclub verbreiten sich Verschwörungstheorien. Ist alles nur ein großer Schwindel? Wo sind sie? Warum haben sie uns verlassen?

Das Projekt besteht aus einem Netzwerk von Webseiten. Der User folgt im Netz gelegten Spuren, um herauszufinden, was wirklich draußen in der Wüste geschehen ist. Auf seiner Suche nach der Wahrheit landet er in Sackgassen, folgt falschen Hinweisen, begegnet in den Chatrooms tragischen Geschichten von verrückten oder einfach nur gelangweilten Menschen.

Der User wird von der offiziell wirkenden Website einer Plattenfirma durch ein Labyrinth inoffizieller Fanclub-Seiten, Homepages und Chatrooms geführt. Die Autoren der Websites bleiben im Dunkeln. Ist wirklich jemand gestorben und versuchen die Websites Informationen über den Tod der Bandmitglieder zu sammeln? Oder spielen die Fans in einem ausgeklügelten Schwindel mit?
Was die Jury für diese beiden Konzepten sofort vereinnahmte, waren die Geschichten, die erzählt werden. Dass überhaupt Geschichten erzählt werden und diese auch immer im Vordergund bleiben und nicht dem Medium untergeordnet sind. Dabei setzen sich beide Projekte dennoch mit dem Medium Internet auseinander, greifen auch beide wieder das Thema der Fiktionalität auf. Was ist echt, was ist live? Kann und darf man allem glauben, was im Web geschrieben und gechattet wird.

Darüberhinaus macht sich FLUCHTEN! die Ästhetik der Web- und Überwachungskameras zu eigen, spielt dabei mit etwas sehr Internet-Technologie-spezifischem, nämlich den verwackelten, flüchtigen Bildern gestramter Videos. "Missing" dagegen thematisiert auf eine versteckt ironische Art den ganzen Wettbewerb. Geht es doch bei ihnen um vermisste Körper. Jene Körper, fragt man sich da, die es dann doch nur im Theater geben kann und die im großen weiten Cyberspace nirgends zu finden sind.

Was tatsächlich aus diesen Konzepten wird, muss man abwarten. Das Projekt "Missing" wird noch dieses Jahr für das Theaterfestival SPIELART produziert. Da der Preis in Kooperation mit der Ars Electronica vergeben wurde, wird eine erste Preview im September 2001 in Linz gezeigt werden, und die fertige Produktion dann im November in München, bzw. World Wide im Web.


Im Sinne eines Fazits möchte ich eine Beobachtung und eine Bemerkung anschließen. Vorab sei gesagt ­ und dessen bin ich mir durchaus bewusst ­ dass der obige Kurzüberblick und die vorgenommene Kategorisierung den 51 bei "webscene" eingereichten Konzepten sicher nicht gerecht werden konnte. Man könnte sicherlich lange Artikel über jedes einzelne Projekt verfassen. Das habe ich nicht getan. Vielmehr wollte ich versuchen, anhand der Beispiele aus dem Wettbewerb das Potential des Internets als "Bühnenraum" auszuloten, bzw. das Potential des Kunst-Genres Theater untersuchen, im Hinblick darauf, ob theatrale Herangehensweisen neue Impulse oder andere Gestaltungsmöglichkeiten für das Medium Internet liefern können.

Zuerst also eine Beobachtung.
Bei einer Mehrzahl der vorliegenden "webscene"-Konzepte ist die Rede von der Nutzung der Streaming-Technologie. Die Körperlichkeit von Schauspielern, so die Idee, soll mittels Video-Streaming ins Netz geholt werden. Ich möchte hierzu die Site eines Tänzers und Mediengestalters aufrufen, der bereits ein Tanz-Projekt realisiert und sich mit dem Ausbau dieses Projektes am Wettbewerb beteiligte. Dem Grundgedanke seines Projektes "Collecting Movements" zufolge, soll das World Wide Web als Aufführungsort für choreografische Inszenierungen genutzt werden (siehe: www.digital.hdk-berlin.de/~thaase/collecting_movements/welcome.html). [8]

Was man jedoch bei "Collecting Movements" beobachten kann, ist eine Transformation. Ich sehe Videos. Tolle und teils wirklich gelungene Videos, die in ihrer Kürze und Konzentriertheit hervorragend für eine Online-Präsentation geeignet scheinen. Aber es sind eben Videos und was ich rezipiere, sind Videofilme und keine Tanzaufführungen. Denn was eine Live-Performance von diesen Video-Präsentationen unterscheidet ist gerade der Live-Charakter, und selbst wenn diese Filmchen nun nicht geloopt wären und auf der Website geschrieben stünde, dass es sich um Live-Mitschnitte handelte, würde das zum einen nichts an der (Video-)Ästhetik ändern, zum anderen würde dann wieder die eingangs von mir erläuterte Glaubensfrage gestellt werden müssen.

Meine Schlußbemerkung zielt auf die mit dem "webscene" Wettbewerb angeregte Suche nach der künstlerischen Innovation im Internet; Zitat aus dem Ausschreibungstext: "Kann der Begriff 'Theater' in den spezifischen Möglichkeiten des Internet neu gedacht werden? Kann hier eine neue Kunstform entstehen?"

Ich behaupte Nein. Damit bin ich dann auch wieder am Anfang angelangt. Vom Ende der Netzkunst, usw. Denn alles, was in der Beschränktheit des Datenraums machbar ist, wurde - so oder so ähnlich - inzwischen gemacht. Von interaktiven Spielen bis zu Live-Streaming Events. Ein wirklicher Innovationssprung hätte zum jetzigen Zeitpunkt viel mehr mit den technischen Machbarkeiten zu tun. Wenn nun auf Projekten wie den vorher vorgestellten das Label "Theater" oder "theatralisch" klebt, so ändert das doch nichts für den User vor dem Bildschirm; ein Videofilmchen bleibt ein Videofilmchen.

Oder noch einen Schritt weiter: ein Wettbewerb wie "webscene" hat zwar Interessantes zutage gefördert, aber nicht das, was er hätte fördern können. Ich denke das Neue, Andere lässt sich nicht mehr im Internet allein finden, sondern dort, wo die Grenzen vom virtuellen zum realen Raum auch wieder überschritten werden. Also dort, wo das Medium Internet als eines von mehreren einsetzbaren Medien begriffen und wieder mehr als das was es ist, nämlich eine Kommunikations- und Distributionstechnologie verstanden wird.

Denkbar wäre so eine neue, vom 'alten' Theater inspirierte Kunstform allerdings schon; ich würde sie Inter-Aktionen nennen. Sie wäre die Erforschung dieser seltsamen Orte zwischen Realität und Fiktion, die Gratwanderung entlang der Schnittstellen von Echtem und Virtuellem, Lokalem und Globalem; Leben und Kunst. Sie erinnert ein bißchen an die Perfomance- und Happening-Kunst der 60er Jahre. Sie benötigt ein Publikum aus Usern und Zuschauern und beruft sich auf ein "Wir" interagierender Akteure; ohne Publikum könnte sie nicht existieren. Eine solche inter-aktionäre Kunstform wäre sicher nur temporär denkbar, immer einmalig und zweifellos immer auch ein Experiment.

[1] http://www.thing.net/~rdom/main_display.html
[2] http://www.schauspielhaus.de
[3] http://www.spielart.org
[4] http://www.aec.at
[5] http://www.medienforum.org
[6] http://www.stadtforum-muenchen.com
[7] http://www.gobsquad.com
[8] www.digital.hdk-berlin.de/~thaase/collecting_movements/welcome.html


Seiten: 1 - 2 - 3   -   zurück zur Übersicht Theorie