Insgesamt aber kann Harris Theaterexperiment auf jeden Fall als Erfolg gelten: Das Team hinter dem Hamnet, das sich fortan "Hamnet Players" nannte, produzierte noch zwei weitere Stücke und war, ob direkt oder indirekt, der Begründer einer ganzen Bewegung, die die Möglichkeiten des Theaters im Internet erprobte. Ihre Nachfolger waren beispielsweise das MOO-basierte Theater der "Plaintext Players" um Antoinette LaFarge [3], das ATHEMOO [4] der amerikanischen Theaterwissenschaftlerin Juli Burk, das von der amerikanischen "Association for Theater in Higher Education" unterstützt wurde und das "Desktop Theater" von Adriene Jenik und Lisa Brenneis [5].

Alle diese Gruppen erprobten die Möglichkeiten des Theaters in den 'Räumen' der synchronen computergestützten Kommunikation, die Hamnet Players im IRC, die späteren Protagonisten dann vor allem in den virtuellen Textwelten von MUDs und MOOs, das Desktop Theater auch in grafischen Systemen. Gemeinsam ist allen diesen Unternehmungen, dass sie versuchen, die Konventionen des Theaters in die 'neuen Räume' der synchronen computergestützten Kommunikation zu 'übersetzen'. Alle genannten Protagonisten haben in Interviews und Veröffentlichungen ihre Überzeugung kundgetan, Theater zu machen. Es handelt sich also zweifelsohne um intermediale Phänomene in dem von Christopher Balme vorgeschlagenen Wortsinn: Sie sind "der Versuch, in einem Medium die ästhetischen Konventionen und / oder Seh- und Hörgewohnheiten eines anderen Mediums zu realisieren" [6].

Vergleicht man das Ergebnis dieser Realisation mit dem Theater des Real Life, so fallen etliche Gemeinsamkeiten ins Auge.
  • Erstens: Theater im Internet ist live. Alle Beteiligten sind zur gleichen Zeit am gleichen (virtuellen) Ort. Die Zuschauer erleben nicht die Ausstrahlung einer vorgefertigten Produktion, die unabänderlich abläuft, sondern sind an einem Prozess beteiligt, dessen genaue Ausformung sich erst im Entstehen entscheidet.
  • Virtuelles Theater ist zweitens, wie die synchrone computergestützte Kommunikation allgemein, interaktiv. Es ist nicht nur allen Darstellern, sondern auch den Zuschauern jederzeit möglich, sich zu Wort zu melden, und damit den Gang der Performance zu beeinflussen. Während das bei den Aufführungen der Hamnet Players von vielen Beteiligten als störend empfunden wurde, basieren z.B. die an Augusto Boal orientierten Improvisationen des Desktop Theaters im Palace genau auf dieser Möglichkeit der Interaktion zwischen den Darstellern und den restlichen Anwesenden. Entscheidend ist, auch bei den Hamnet Players, die Möglichkeit zur Interaktion.
  • Drittens ist der Hamnet im IRC ist wie der Hamlet am Deutschen Theater ein extrem vergängliches Phänomen, er ist transitorisch. "Mit dem Produzieren [verschwindet] das Produkt", sagt Joachim Fiebach [7], und nie war das deutlicher zu sehen: Mit jeder Zeile, die am unteren Bildrand erscheint, verschwindet eine am oberen.
Zwar lässt sich die Kommunikation in einem Chatroom relativ leicht mit einem sogenannten Logfile aufzeichnen, und auf den ersten Blick gleicht die Aufzeichnung dem Original wesentlich mehr als ein Video einer Theateraufführung der ursprünglichen Aufführung. Doch auf den zweiten Blick werden die Unterschiede deutlich. Ein Logfile verrät beispielsweise nichts über das Timing der Kommunikation. Und er verändert die Situation des Zuschauers fundamental: Vom (potentiell aktiven) Mitschreiber macht er ihn zum passiven Leser, beraubt der Möglichkeit der Interaktion.
Damit gibt es, zumindest aus kommunikationstheoretischer Sicht, zwischen den Aufführungen der Hamnet Players und dem Theater des Real Life mehr Gemeinsamkeiten als beispielsweise zwischen Theater und Kino. Kino ist weder live noch transitorisch, und als klassisches 'Einbahnstraßenmedium' bietet es dem Zuschauer keinerlei Möglichkeit der Interaktion.

Noch eine weitere offensichtliche Ähnlichkeit sei erwähnt. Der Hamlet im Internet Relay Chat wird wie sein großer Bruder im Real Life (und im übrigen auch die Kinoversion) von Darstellern zur Aufführung gebracht, die jeweils eine Rolle geben.
Im Fall des Hamnets lässt sich sogar ein extrem konservatives Theaterverständnis konstatieren, dass mit dem Theater des 19. Jahrhunderts mehr Gemeinsamkeiten hat als mit der Theater- und Performanceszene zur Zeit seiner Aufführung. Die 'Eroberung' des Internets für das Theater erfolgte also nicht von Seiten der zeitgenössischen Avantgarde, sondern mit einem eher konservativen Theaterverständnis als Vorbild.

Offensichtlich ist aber auch der zentrale Unterschied zwischen Theaterexperimenten im IRC und Theater im Real Life: die Abwesendheit des physischen Körpers. "Wie auch immer Theater definiert sein mag, unumstritten dürfte die Tatsache sein, dass es sehr wesentlich mit der physischen Präsenz darstellender Personen verbunden ist" [8], schreibt zum Beispiel Helmar Schramm. Was bleibt im IRC übrig von den spezifischen Mitteln eines Schauspielers? Keine Stimme, keine Mimik, keine Gestik, keine Bewegung, statt dessen sitzt er alleine vor seinem Computer und tippt, ohne jeden Kontakt zu seinen Kollegen. Die radikale Reduktion auf den Text und das Timing seiner Vermittlung sind für das Theater, dessen Kunst sich oft zentral in der grandiosen Beherrschung des Körpers und seiner Mittel zeigt, nur schwer zu akzeptieren.

Und mit der Vereinzelung von Darstellern und Zuschauern vor weltweit verstreuten Computern fällt ein weiterer Punkt weg, der oft als zentrale Qualität des Theaters genannt wird: Der des "Gesellungsereignisses" [9], wie es Joachim Fiebach nennt, oder des "gemeinsamen Zeit-Raums der Sterblichkeit" [10], wie Hans-Thies Lehmann schreibt. Was bleibt über vom sozialen Ereignis Theater, wenn alle Beteiligten alleine vor ihren Computern sitzen?

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[3] http://yin.arts.uci.edu/~players/
[4] http://moo.hawaii.edu:7000. Die Startseiten des ATHEMOO sind zwar noch vorhanden, das MOO selber funktioniert aber seit 2001 nicht mehr.
[5] http://www.desktoptheater.org
[6] Balme, Christopher: Robert Lepage und die Zukunft des Theaters im Medienzeitalter. In: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hrsg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre., o.O. 1999, S. 135
[7] Fiebach, Joachim: Brechts Straßenszene. Versuch über die Reichweite eines Theatermodells. In: Ders.: Keine Hoffnung, keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität, Berlin 1998, S. 26f
[8] Schramm, Helmar: Karneval des Denkens, Berlin 1996, S. 258
[9] Fiebach, Joachim: Kommunikation und Theater. In: Ders.: Keine Hoffnung, keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität, Berlin 1998, S. 164
[10] Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt 1999, S. 410

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